Der Biberacher Martin Gerster ist Präsident der THW-Bundesvereinigung, die die Interessen der ehrenamtlichen Helfer im Technischen Hilfswerk vertritt. (Foto: THW-Bundesvereinigung)

Martin Gerster, Präsident der THW-Bundesvereinigung, zur Hilfe für ukrainische Flüchtlinge und zum Krisenmanagement in Deutschland

In der Schwäbischen Zeitung berichtete Claudia Kling am 14. März:

Der SPD-Politiker Martin Gerster, Präsident der THW-Bundesvereinigung, sieht Defizite beim Schutz der Bevölkerung in Deutschland. „Wir hatten die zivile Verteidigung, den Zivilschutz in den vergangenen Jahren viel zu wenig im Blick“, sagte der Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Biberach im Interview. Von einer allgemeinen Dienstpflicht hält Gerster nichts. Dafür gebe es derzeit keine Notwendigkeit.

Herr Gerster, mehr als 2,5 Millionen Menschen haben die Ukraine seit den russischen Angriffen verlassen und suchen Schutz – vor allem in den Nachbarländern. Welche Hilfe können Organisationen wie das Technische Hilfswerk (THW) leisten?

Vom THW sind aktuell schon rund 2300 Helferinnen und Helfer im In- und Ausland im Einsatz, Tendenz steigend. Vor Kurzem ist ein Hilfstransport mit Feldbetten, Zelten und Schlafsäcken in der Republik Moldau angekommen, der vom neuen THW-Logistikzentrum in Ulm ausging. In Deutschland bereiten die THW-Einsatzkräfte in Turnhallen Unterkünfte vor und bauen zum Beispiel die Stromversorgung für neue Notunterkünfte auf. Die THW-Helfer, fast alles Ehrenamtliche, werden vielfältig gebraucht. Ich bin froh, dass es so viele Menschen in Deutschland gibt, die bereit sind, anderen in der Not zu helfen.

Der Ukraine-Krieg lässt viele Probleme hierzulande vergleichsweise gering erscheinen – dennoch die Frage: Wie gut ist Deutschland auf Katastrophen vorbereitet?

Wir hatten die zivile Verteidigung, den Zivilschutz in den vergangenen Jahren viel zu wenig im Blick. Niemand hat wirklich damit gerechnet, dass es in Europa Krieg geben und eine derartige Bedrohungslage für Deutschland entstehen könnte. Alle gingen davon aus, dass die stabile Friedensordnung in Europa trägt. Deshalb liegt in dieser Hinsicht einiges im Argen. Der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz ist in Deutschland primär Aufgabe der Länder. Dennoch hat es sich auch die Bundesregierung zum Ziel gemacht, die Probleme in diesem Bereich anzugehen. Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, dass wir nicht ausreichend gut aufgestellt sind. Die Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ist nur ein Beispiel dafür.

Auch zu Beginn der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass Deutschland nicht gut auf Notsituationen vorbereitet ist. Hat sich daran inzwischen etwas geändert?

Mit Blick auf das THW kann ich sagen: Es hat sich einiges verbessert, auch schon vor der Corona-Pandemie. Der Bund hat viel Geld in zahlreiche THW-Liegenschaften investiert und das THW mit rund 2000 neuen Fahrzeugen ausgestattet. Als direkte Folge von Corona werden vier Logistikzentren aufgebaut, eines davon in Ulm, in denen Material für den Krisenfall eingelagert ist. Das THW ist die Zivilschutzorganisation des Bundes mit der Aufgabe, die Funktionsfähigkeit des Staates zu unterstützen, die Bevölkerung zu schützen und die kritische Infrastruktur am Laufen zu halten. Das erfordert eine entsprechende Ausstattung. Mit Baracken und Oldtimern, wie es noch vor wenigen Jahren beim THW der Fall war, ist diese Aufgabe nicht zu erfüllen.

Ganz konkret: Gibt es jetzt genügend medizinisches Material, wenn es in einer Krisensituation gebraucht würde?

Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Bestimmte Materialien werden jetzt so bevorratet, dass sie jederzeit zur Verfügung stehen. In den Logistikzentren des THW, die derzeit im Aufbau sind, werden wichtige Materialien in größeren Dimensionen eingelagert. In Ulm sollen es circa 50 Millionen Schutzmasken sein. Dazu kommen Schutzkittel, Desinfektionsmittel, Feldbetten, Zelte, Sandsäcke, Sandsackfüllmaschinen, Schneeschaufeln und Notstromaggregate. Das ist absolut notwendig und auch überfällig.

Die Bundeswehr soll nach der „Zeitenwende“, von der Bundeskanzler Olaf Scholz seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine spricht, mit 100 Milliarden Euro modernisiert werden. Steht es tatsächlich so schlecht um unsere Landesverteidigung?

Bei der Bundeswehr gibt es dramatische Defizite. Deshalb ist diese Initiative absolut richtig. Ein Beispiel aus der Region dazu: Die in Laupheim stationierten Transporthubschrauber der Bundeswehr sind überaltert und nicht mehr richtig funktionsfähig. Da muss etwas passieren. Aber natürlich müssen wir gleichzeitig überlegen, wie wir unser Geld clever in die Bereiche Zivilschutz/zivile Verteidigung, aber auch Bevölkerungs- und Katastrophenschutz investieren. Wir stehen vor so vielen Herausforderungen – Klimawandel, Corona-Pandemie, Cyberattacken -, die alle das Potenzial haben, die Sicherheit der Bevölkerung zu gefährden. Deshalb kämpfe ich für vier weitere Logistikzentren in Deutschland, um wichtige Materialien für den Krisenfall einlagern zu können.

Mit dem Ukrainekrieg kehrt auch die Angst vor Atomwaffen zurück. Wäre Deutschland für ein solches Szenario gewappnet?

Dass es dazu kommt, halte ich für unwahrscheinlich. Aber ich verstehe natürlich die Ängste der Menschen. Ehrlicherweise muss man sagen, dass wir für einen solchen Fall nicht ausreichend gut aufgestellt wären. Der Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Ukraine wird ein Umdenken zur Folge haben. Deutschland wird sich neu aufstellen müssen, um auf verschiedene Krisenszenarien besser vorbereitet zu sein. Dieser Prozess ist bereits im Gang.

Wenn Sie in Ihrem Wahlkreis danach gefragt werden: Empfehlen Sie den Bürgern, Vorräte anzulegen?

Die Bundesregierung hat vor einigen Jahren eine Liste herausgegeben, auf der Vorräte für zu Hause empfohlen wurden. Das wurde von vielen ins Lächerliche gezogen, doch ich fand es sehr sinnvoll. Wir selbst haben als Familie immer bestimmte Vorräte zu Hause – beispielsweise Wasser, Kerzen, bestimmte Lebensmittel, eine Powerbank fürs Laden des Handys, einen Kanister mit Benzin. Das würde ich jedem empfehlen, unabhängig von der aktuellen Situation in der Ukraine. Man sollte immer darauf vorbereitet sein, dass auch unser Stromnetz für ein paar Stunden oder Tage ausfallen kann.

Das THW, eine Bundesanstalt, wird zu 98 Prozent von Ehrenamtlichen getragen. Mit Blick auf Corona-Pandemie, Flutkatastrophe, jetzt der Ukraine-Krieg: Sind das noch Aufgaben für Ehrenamtliche?

Beim THW sind mehr als 80 000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer im Einsatz. Sie arbeiten mit großer Leidenschaft, haben eine hervorragende Qualifikation und sind auch bereit, Urlaubstage zu opfern. Die Ehrenamtlichen bringen mit ihren vielfältigen Hintergründen und beruflichen Tätigkeiten auch eine unglaubliche und unverzichtbare Bandbreite und Expertise in das THW ein. Man könnte glauben, dass die Corona-Pandemie oder die Hochwasserkatastrophe im vergangenen Jahr zu einer gewissen Müdigkeit oder Überlastung geführt haben, aber das Gegenteil ist der Fall. Es gibt ein riesengroßes Interesse, insbesondere von jungen Leuten, beim THW mitzuarbeiten. Mancherorts haben die Ortsverbände sogar Probleme, weitere Ehrenamtliche aufzunehmen. Das ist doch eine starke Botschaft: Wir haben aktuell große Krisen, aber die Bereitschaft zu helfen wächst.

Von einer allgemeinen Dienstpflicht, wie sie schon mehrfach gefordert wurde, versprechen Sie sich also keine Vorteile für eine Organisation wie das THW?

Ich stehe einer allgemeinen Dienstpflicht nach wie vor sehr kritisch gegenüber und sehe auch derzeit keine Notwendigkeit dafür. Mir sind Leute, die aus eigener Überzeugung etwas tun, viel lieber als Mitarbeiter, die dazu verdonnert werden müssen. Die Wehrpflicht wurde unter Verteidigungsminister zu Guttenberg mehr oder weniger über Nacht ausgesetzt. Es wäre ein wahnsinniger Kraftakt, das wieder rückgängig zu machen und die notwendigen Strukturen wieder aufzubauen.

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